Bildquelle: Pixelio.de
Fotograf: Wilhelmine Wulff


ROMEO UND JULIA

 

 

 

Szene 1

 

Berlin Kreuzberg, Hochhausviertel. Die graue Fahrstuhltür öffnet sich im 13. Stock. Wie jeden Mittag schließt Kevin die Wohnungstür auf. Wie jeden Mittag schmeißt er seine Schultasche mit einem Ruck in die Ecke des schmalen Korridors. Wie jeden Mittag liegt ein weißer Zettel auf dem Tisch:


LIEBER KEVIN

DU KANNST DIR DIE RAVIOLI

IN DER MIKROWELLE WARM MACHEN.
HEUTE WIRD ES ETWAS SPÄTER.
KOMME ERST GEGEN 22.00 UHR.
DENK AN DIE SCHULAUFGABEN
UND ÄRGERE DEINEN VATER NICHT!

DEINE MAMA

 

Ravioli, schon wieder diese scheiß Ravioli! Und wieder dieses HEUTE WIRD ES ETWAS SPÄTER und die alltägliche Krönung ÄRGERE DEINEN VATER NICHT! Null Bock auf diese scheiß Ravioli!

Kevin sehnt sich nach einem ganz normalen Mittagessen, ja so richtig spießbürgerlich.

Braten mit Kartoffeln und Gemüse, und dann die ganze Familie am Mittagstisch. Und überhaupt, welche Mama? M A M A – das hat so etwas wohlig Warmes, Fürsorgliches, so ein  „in den Arm genommen werden“. Wo ist Mama? Mama ist in der Kneipe um die Ecke und bedient die ewig Frustrierten, die Arbeitslosen und die Einsamen, die tagein tagaus ihr beschissenes Leben an der Theke fristen, um ihren Frust in endlosen Bieren und Schnäpsen zur ertränken.. Mama ist dort so eine Art Mülleimer, in den sie ihren ganzen Mist hineinschütten. Müll rein, Deckel zu, fertig!
Und dann ist da noch Vater. Vater hört sich gut an, so wie jemand, der mit seinen Sohn auf den Bolzplatz oder am Wochenende zum Angeln geht. Ja so ein Vater wäre gut. Ist aber nicht! Wenn Vaters Rückkehr sich durch das Zufallen der Wohnungstür um punkt 16.00 ankündigt, heißt es: Ruhe und Musik aus!

Die ersten Schritte tragen ihn dann zum Kühlschrank, in dem sein ja so sehr verdientes erstes Bierchen schon sehnlichst auf ihn wartet. Dann geht es auf die Couch und Fernseher an!! Jetzt bloß nicht stören! Aber es ist ja noch nicht so weit...

Kevin liegt auf seinem Bett. Seine Augen blicken starr und irgendwie verloren auf die mit Postern von Stars zugeklebte Decke. Alles zugeklebt, dieses öde weiße Nichts. Alles tolle Jungs! Richtig coole Typen. Die haben es gut. Viel Kohle und wenig Sorgen.


Kevin träumt davon nach Amerika zu gehen und Rockmusiker zu werden oder überhaupt einfach weg zu sein. Seine Augen schwenken zum Fenster hinaus und seine Lieblingsmusik trägt seine Gedanken in den Sommerhimmel. Er schwingt sich auf, der Vogel aus dem noch nicht einmal goldenen Käfig, aber wenigsten kann er ihn dann und wann verlassen, um sich für kurze Zeit ins Land der Sehnsucht zu stehlen. Kevin gleitet langsam dahin und irgendwann fallen seine schweren Lider zu. Carpe horam!

Szene 2

 

Berlin Kreuzberg, Türkenviertel. Nazli sitzt angespannt über ihren Schreibtisch gebeugt, um sich in den wenig unbeobachteten Momenten ihrem Tagebuch anzuvertrauen. Hier kann sie sich alles von der Seele schreiben, die geheimsten Sehnsüchte und Wünsche eines 15-jährigen Mädchens. Wenn man Türkin ist und noch dazu in Deutschland wohnt, können diese geheimsten Wünsche wirklich sehr geheim sein!

 

ICH BIN WAHRLICH EIN KOMISCHER VOGEL!
HÜBSCH ANZUSEHEN, MIT KRÄFTIGEN FLÜGELN,
ABER EIN VOGEL IN EINEM GOLDENEN KÄFIG!
EIN KOMISCHER VOGEL BIN ICH
IN EINEM GOLDENEN KÄFIG.
KOMISCHER VOGEL, DER NICHT MAL WEIß,

OB ER AUS DIESEM KÄFIG HERAUSWILL,
WEIL DER KÄFIG IN EINEM KÄFIG IST.

 

Ja, das ist es, so fühlt Nazli sich, genau so! Traurig klappt sie ihr Tagebuch zu. Sie blickt aus dem Fenster, dessen Aussicht ihr ein trauriges Panorama bietet. Kein Meer, keine Zypressen, nicht einmal ein bisschen Grün!

Statt dessen graue und gelbe Tonnen und viel Lärm, den ihre Tagträume jedoch glücklicherweise meistens zu verschlingen vermögen.
„Nazli, komm!“ Hastig räumt Nazli das Tagebuch in ihr Geheimversteck. Das Leben hat sie wieder!
 

 

Das Leben... das ist Mama, Papa und ihre beiden Brüder. In den siebziger Jahren ist Papa hierher gekommen, wie er sagt, um im Deutschland für ein bessres Leben in der Heimat zu sparen! HEIMAT... Ja, er weiß wenigstens, was das ist... HEIMAT. Heimat, Heim, heim(lich), ja heimlich, das passt eher für Nazli. Alles muss sie verstecken! Ihre Wünsche, ihre Träume, sich selbst. Nein, es ist nicht so, dass Mama und Papa nicht nett wären, nein, das ist es nicht!! Papa ist liebevoll und arbeitet hart, und Mama sorgt sich um die Familie – obwohl – sie ist auch so ein Vogel im Käfig. Doch sie ist eher ein blinder Vogel. Und dann sind da noch ihre Brüder, die sind so eine Art Wachposten, immer auf der Hut, dass niemand Nazli zu nahe kommt. Bloß nicht mit irgendwelchen Jungs anbändeln, als ob man vom Küssen schwanger würde!

„Nazli, komm!“ Ja, Nazli kommt ja! Nazli soll mit Mama in der Stadt Stoff kaufen gehen. In die Stadt gehen sie nicht gerne. Da müssen sie am Bahnhof vorbei, da, wo die ganzen Jugendlichen stehen und ihnen Dinge wie Kanake, dreckige Ausländer und andre schlimme Worte hinterher rufen, die Nazli lieber nicht denken möchte. Wenn man an solchen Menschen vorbeigeht, krampft es sich zusammen, der Atem will einem nicht mehr durch den Körper fließen, aber das Schlimmste ist, man fühlt sich ganz klein, die ganze Luft scheint aus dem Körper gepresst zu sein, man bewegt sich eher wie ein Drahtmensch. Wütend, nein wütend ist man eigentlich nicht in diesen Momenten.

Man hat einfach nur Angst! Das ist der Käfig, in dem der Käfig ist!


Es ist komisch, wenn sie dann nach Hause in ihr Viertel zurückkehren, ist es so, als ob sie von einem in den anderen Käfig treten. Wenn sie die Busehofer Straße überquert haben, sind sie drin, im goldenen Käfig. Im goldenen Käfig ist es besser, jedenfalls braucht man da nicht so eine Angst zu haben. Ihre Brüder und die andren türkischen Jungs z. B. haben sich zu Cliquen zusammengetan und passen auf, dass nichts passiert. Nichts heißt, dass keine Banden von draußen kommen, meistens sind es Jugendliche mit kahl geschorenen Köpfen und so einer Art Bundeswehrklamotten. Wenn die kommen, gibt’s immer Stress. Gott sei Dank ist noch nichts Schlimmeres passiert. 
 

 

Szene 3

Es ist soweit, die Wohnungstür ist zugefallen. Kevins Träume sind fürs erste beendet. Er hört Vater grummelnd zum Kühlschrank gehen. Jetzt ist das erste Bierchen fällig. Wenn es nicht mehr als fünf werden, kann Kevin sich heute Abend ganz gut blicken lassen. Wenn doch, sieht`s schlecht aus. Schlecht, das heißt, erst mal Streit mit Mutter, danach gibt es zwei Alternativen: Entweder kommt jetzt Kevin an die Reihe oder die Ausländer. Wenn Kevin an der Reihe ist, geht`s echt an die Substanz: Versager, Dummkopf, Nichtsnutz, Penner, Nazifreund. So sieht das Standardvokabular aus, das ein Vater für seinen Sohn übrig hat. Egal ist ihm das nicht, nein, das tut verdammt weh! Gut, dass er noch Freunde hat, und genau da geht Kevin jetzt auch hin. Kevin schlüpft in seine Bundeswehrhose, die er mit den dazu passenden Stiefeln im Laden um die Ecke gekauft hat. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel auf seinen kahl geschorenen Kopf bestätigt ihm, das alles ok ist. Ja, für seine Freunde ist Kevin ok.

Er gehört dazu, seine Freunde, das ist seine Familie. Zusammen sind sie stark, jeder steht für den anderen ein, und wenn ihnen einer was will, gibt’s eben was auf die Fresse. Das ist doch normal. Man muss sich eben verteidigen, besonders, wenn einem die Ausländer dumm kommen!

Na ja, da muss er seinem Vater ja recht geben, die nehmen einem echt die Arbeit weg. Vater erzählt oft, dass es auf dem Bau nicht so gut läuft. Die stellen echt nur noch Kanaken ein, dass ist billiger. Wenn Vater Pech hat, fliegt er bald.

 

Szene 4 

Es ist geschafft. Der Einkauf ist erledigt. Nazli liegt auf ihrem Bett und denkt an morgen. Morgen wird sie nach der Schule wieder eine Stunde ins Internet Café gehen. Mittwochs ist ihr Tag. Ihrer Mutter hat sie erzählt, dass sie mittwochs sechs Stunden hat, aber in Wirklichkeit sind es nur fünf. Das Internet Café nennt Nazli ihre Oase. Sie hat dort im Chat einen Jungen kennen gelernt und ist dabei, sich in ihn zu verlieben. Sie kennen sich jetzt schon seit fünf Wochen und irgendwie scheinen ihre Schicksale miteinander verflochten zu sein...
Wenn Nazli an ihre Oase denkt, fangen ihre Augen an zu glänzen, und doch liegt auch Traurigkeit in ihnen, denn die Oase ist eine künstliche Welt. Wenn die Oase doch nur Wirklichkeit werden könnte, dann würde Nazlis größter Traum in Erfüllung gehen! Der Prinz würde vom Märchen ins Leben treten und sie wach küssen! Doch das Leben ist kein Märchen! Das Leben, das ist ein Türkenviertel in Deutschland!

Das Leben, das ist die Elsa-Brändström Realschule in Berlin Kreuzberg, dort, wo Nazli in jeder Pause mit ihren Freundinnen zusammensteht, dort, wo sie in fast jeder Pause von den Jungen aus der Schule nebenan geärgert wird. Geärgert? Nein, ärgern ist das eigentlich nicht. Eher demütigen.

Es sind die Sprüche, von der Art, wie sie sie auch vom Hauptbahnhof kennt, und manche Jungs vom Bahnhof erkennt sie auch wieder, nur, dass sie andere Klamotten tragen. Klamotten – Kleider machen Leute – auch das hat Nazli schon begriffen. Ein simples Kopftuch kann da schon leicht zum rotenTuch werden.

Nein, Nazlis Familie kommt nicht aus dem tiefsten Anatolien, obwohl ihre Mutter noch ein Kopftuch trägt, so eines wie es die türkischen Frauen halt tragen. Und Nazli? Nazli sieht eigentlich aus wie ein ganz normales Mädchen: Jeans, T-Shirt, Turnschuhe. Und eigentlich hat sie auch ganz normale Wünsche an das Leben. Sie liebsten würde sie Stewardess werden und wie ein Vogel durch die ganze Welt reisen. Aber eben nur eigentlich. Im Innern fühlt sie sich hin- und hergerissen, zwischen der deutschen Kultur und dem, was ein türkisches Mädchen zu sein hat:

Eben ein Mädchen ohne große Träume, ein Mädchen, das sich später als Mutter und Frau verwirklichen soll, und vor allem ein anständiges Mädchen. Ihre Mutter, der blinde Vogel, hat es da leichter. Sie wurde sozusagen schon im goldenen Käfig importiert. Was auch sie stört ist der Käfig um den Käfig. Aber Nazli sieht sich in beiden Käfigen gefangen.


Den Prinzen, den sich Nazli wünscht gibt es vielleicht irgendwo, doch sie kann ihn sich nicht aussuchen. Am liebsten hätten ihre Eltern einen türkischen Prinzen, doch was, wenn sie einen deutschen Prinzen liebt? Bald wird sie es wissen.

 

Szene 5

 

HALLO JULIA; MEIN KLEINER VOGEL
HIER SPRICHT DEIN TRAUMPRINZ


HABE DEIN RÄTSEL GELESEN UND ICH GLAUBE ICH WEIß, WER DER VOGEL IST!

ES IST KOMISCH, ABER GESTERN, ALS ICH AUF MEINEM BETT LAG, FÜHLTE ICH MICH AUCH WIE EIN VOGEL. ICH TRÄUMTE DAVON, DASS ICH HOCH ÜBER DEN WOLKEN SCHWEBTE. ALLES WAR RUHIG UND FRIEDLICH. DAS SCHÖNSTE ABER WAR, DASS ICH NICHT ALLEINE WAR: FLÜGEL AN FLÜGEL FLOG ICH MIT DEM SCHÖNSTEN VOGELMÄDCHEN RICHTUNG LAND DER TRÄUME. STELL DIR VOR; WIR BEIDE ÜBER DEN WOLKEN.UND DER GANZE FRUST WEIT WEIT WEG. NUR WIR BEIDE AUF DEM WEG ZU UNSEREM TRAUMSCHLOSS.

 

DEIN ROMEO

PS: MEIN GRÖßTER TRAUM IST DICH EINMAL ZU SEHEN!! BITTE FLIEGE AUS DEINEM GOLDENEN KÄFIG ZU MIR!

 

Es war schon spät. Kevin saß in seinem Zimmer am Computer. Vater hatte Gott sei Dank nicht mehr als fünf Bier getrunken, so dass der Abend ziemlich ruhig verlaufen war und Kevin unbehelligt in sein Zimmer gehen konnte. Als 16 jähriger Junge hatte er natürlich schon so manches Mal ein Auge auf nette Mädchen geworfen. Aber dieses Mädchen war etwas Besonderes! Kevin hatte sie beim Chatten kennen gelernt. Julia war seine Prinzessin. Eine Prinzessin in einem goldenen Käfig, die auf ihren Traumprinzen wartete. Kevin war sicher: Er sollte der Traumprinz sein! Doch würde sich Julia aus ihrem Käfig wagen?

  

Szene 6

Endlich Mittwoch! Nazli hatte sich im Internet Café einen Platz in der äußersten Ecke gesucht, um nicht durch das Fenster gesehen zu werden. Es war ihr nie ganz wohl, wenn sie hier war, in ständiger Angst entdeckt zu werden! Doch ihre Oase bedeutete ihr alles. Nachricht von Romeo! Und was für eine! Nazlis Sehnsucht durfte nicht länger im Land der Oase beheimatet bleiben. Sie musste ihren Traumprinzen sehen!

 

LIEBER ROMEO

DER VOGEL IST ZUM ABFLUG BEREIT, UM SICH INS LAND DER TRÄUME ZU SCHWINGEN!

BITTE KOMME AM NÄCHSTEN MITTWOCH UM 12.40 ZUM SEE.
DU ERKENNST MICH AN DER ROTEN ROSE!!

DEINE JULIA


Nazli fühlte ihr Herz bis in den Kopf schlagen! Nun war es bald so weit. Sie würde sich ihrem Traumprinzen zu erkennen geben. Was aber, wenn es gar kein Traumprinz war? Was, wenn ihre Nationalität ihn abschreckte? Nazlis Hochgefühl, das sie gerade noch beflügelt hatte, wich plötzlich einer diffusen Angst.

Aber musste sie Angst vor einem Menschen haben, dessen Zeilen ihre geheimsten Sehnsüchte in ein Meer von Hoffnung tauchten, dessen einfühlsamen Worte ihre Seelen wie ein unsichtbares Band verknüpften? Nein, sie kannte ihn zwar nicht, wusste weder seinen Namen, noch wo er wohnte oder was er machte. Aber eines war sicher, er war genauso ein einsamer Seelenvogel wie sie.

 

Szene 7

 

Kevin dachte eigentlich, dass er ein ziemlich cooler Typ ist, ja zumindest, wenn er in der Clique war. Aber jetzt fühlten sich seine Beine irgendwie wie Pudding an. Er hatte richtig Schiss, ja Kevin war verliebt und ... aufgeregt, furchtbar aufgeregt. Heute war schließlich Mittwoch, DER Mittwoch. Kevin hatte die Schule geschwänzt, gesagt, dass es ihm nicht gut sei heute, und damit hatte er noch nicht einmal gelogen. Ihm war tatsächlich schlecht! 11.20 Uhr! Es wurde Zeit. Kevin prüfte sich ein letztes Mal ihm Spiegel. Würde sein kahl-geschorener Kopf seine Prinzessin vielleicht abschrecken? Würde sein Aussehen sie vielleicht ganz und gar enttäuschen? Aber jetzt war es Zeit! Auf dem Weg zum See gingen Kevin viele Gedanken durch den Kopf. Was, wenn er sich wirklich verliebte?
Was würde die Clique dazu sagen? Wie würde er sein Mädchen dort vorstellen? Oder würde die Clique vielleicht unwichtig für ihn? Nein, seine Kumpels würde er nicht im Stich lassen. Das nicht, da war sich Kevinziemlich sicher.

Der See rückte näher. Am Ufer sah Kevin einige Liebespärchen sitzen. Es war ein schöner Tag. Da! Das konnte sie sein. Das blonde Mädchen dahinten saß ziemlich verloren dort, aber keine Rose. Nein, das war sie nicht.

Weiter hinten saß noch eine Gestalt mit dunklem langen Haar. Nein, das war eine Türkin. Unmöglich! Kommt nicht in Frage! Kevins Blick schwenkte hin und her.

Es war schon 12.40 Uhr. Sie musste gleich kommen! Vielleicht war sie aber doch zu aufgeregt! Plötzlich erstarrte Kevins Blick. Er hatte eine rote Rose entdeckt! Eine rote Rose in der Hand  - der Türkin! Irgendwie hatte Kevin sogar das Gefühl sie zu kennen. Nein, das war nicht möglich, das konnte, das durfte nicht sein! Kevin fühlte sich plötzlich ganz steif an. Mechanisch stand er auf und ging. War er enttäuscht? War er wütend? War er erschrocken? War er erstaunt? War er?

Szene 8


Nazli hatte über eine Stunde am See gewartet. Ihr Traumprinz war nicht gekommen. Hatte er Angst? War er krank? Nazli war enttäuscht und doch erleichtert, hatte das missglückte Rendezvous ihrer Entlarvung doch einen weiteren Aufschub gewährt. Entlarvung- Was für ein Ausdruck! - dachte Nazli. Doch irgendwie fühlte sie sich tatsächlich oft wie ein Schmetterling im Kokon! Jedenfalls würde sie nächsten Mittwoch sicherlich erfahren, was los war.
 

 

Szene 9

 

Kevin saß auf seinem Bett und fühlte sich leer. Er wusste nicht ob er sitzen oder aufstehen, schreien oder still sein sollte. Er wusste nicht einmal mehr, wer er war! Zu Hause war es das gleiche und doch nicht das gleiche. Kevins Träume waren fort , am Himmel flog kein Vogel mehr und die Stars auf den Postern über seinem Bett wirkten nur noch wie Statisten. Alles drehte sich in Kevins Kopf, und seine Träume schienen  wie in einer Spirale gefangen. Kevin musste etwas tun.

Szene 10

 

Wie in jeder Pause stand Nazli mit ihren Freundinnen in der Ecke des Schulhofes. Die Mädchen alberten herum, so wie 15-jährige Mädchen eben herumalbern. Heute war es ruhig. Ruhig bedeutete, dass es keine Zwischenfälle mit den Jungs von nebenan gab. Das konnte echt unangenehm werden. Die Jungs kamen dann und kreisten die Mädchen sozusagen ein, so wie schleichende Raubtiere im Zoo. Nein, sie griffen nicht direkt an, das war ja das Schlimme, da hätte man ja Hilfe holen können. Vielmehr schlichen sie herum, um ab und zu mit ihren Händen an die Mädchen zu grabschen. Dabei flüsterten sie Dinge wie: Na, Pflänzlein rühr mich nicht an, komm doch mal da rüber, dann kannst du mal was erleben, wobei dies noch zu den harmlosesten Sprüchen gehörte.

Und die Lehrer, wo waren die? Die waren im Lehrerzimmer. Schließlich passierte ja nichts.

Nichts, das waren die ständigen Demütigungen und Belästigungen. Ja, so eine brutale Schlägerei, die wäre was gewesen!

Kevin gehörte auch zu den Jungs, Kevin, der Traumprinz! Ein Traumprinz im Wolfspelz. Doch das wusste Nazli nicht. Gott sei Dank! Kevin schaffte es noch gerade, Nazli einen Brief in ihre Schultasche zu stecken, dann schellte es. Marc hatte es gesehen. Marc gehörte auch zu den Jungs. Und Marc war stark, sehr stark..


 

Schlussszene

 

Kevin war erleichtert. Er hatte seinen Brief in Nazlis Schultasche gesteckt. Er hatte ihr geschrieben, dass er sie nicht treffen könnte, wahrscheinlich nie mehr, er sei krank, sehr krank. Man habe einen Tumor in seinem Kopf festgestellt. Dieser Tumor wäre bösartig und würde seine Persönlichkeit verändern, und er hätte bereits eine Veränderung festgestellt. Aber das sei nicht so schlimm, sie wisse ja um sein beschissenes Dasein. Der Tumor könne nicht mehr entfernt werden und Romeomüsse daran sterben. Julia solle nicht traurig sein, denn er würde in ein bessres Leben eintreten und spüre schon jetzt die Veränderung. Sie solle versichert sein, dass er sie liebe und dass sie sich wiedersehen, im Land der Träume. Ganz sicher.

Kevin fühlte sich nicht mehr so leer, und heute würde er zu seinen Jungs gehen und ihnen sagen, dass er nicht mehr käme. Sein Vater würde ihm zu großen Ärger machen wegen der Clique und so. Dann stand er auf und ging.

Die Jungs standen wie immer am Bahnhof rum, doch sie sahen Kevin anders an als sonst. Sie sagten ihm, dass es wieder Ärger mit den Türken gäbe und Kevin mit zum Fabrikgelände kommen solle.

Dort schlugen sie ihn zusammen. Das letzte, was Kevin hörte war: Scheiß Verräter, liebst eine Türkenhure. Dann wurde es dunkel.

 

Nazli wartet immer noch auf ihren Traumprinzen. Den Brief von Kevin hat sie nie bekommen.